von Sven
Redaktion am 9.Aug.2003 im
alten Forum
Hallo Tobias,
auf dem Integritätsanspruch für US-Soldaten und darauf, dass
"Bush ungleich Amerika" ist, brauchst Du mir gegenüber
wirklich nicht herumzureiten. Da stimmen wir vollkommen überein.
Mir geht es um die Einhaltung und Weiterentwicklung von Prinzipien,
die solche Konflikte lösen können, anstatt sie durch die zur
Arroganz verleitende Gewaltüberlegenheit zu verschärfen. Und dabei
geht es eben nicht nur "um mehr Besonnenheit", sondern um
klare Prinzipien:
Gewaltüberlegenheit kann nur dann Akzeptanz erlangen, wenn sie sich
zugleich rechtlichen Standards unterwirft, beispielsweise die Autorität
des Internationalen Strafgerichtshofs anerkennt, was notfalls mit
einer Art General-Amnestie für die Vergangenheit einhergehen könnte.
Auch die Mehrheit der Iraker wird keinesfalls wollen, dass Saddam
Hussein an die Macht zurückkehrt, so dass man sich mit pragmatischen
Lösungen in der entstandenen Situation bestimmt anfreunden würde.
Die Besatzungskräfte könnten sich behelfen,
indem sie die Bevölkerung Stadt um Stadt, notfalls Stadtbezirk um
Stadtbezirk in einen demokratischen Prozess einbeziehen und die
erforderlichen Besatzungskonditionen regeln. - Das scheint mir
vorrangig mit einhergehender Verbesserung der Versorgungssituation.
Es geht mir also um einen Prioritätenwechsel.
Die Verfolgung des Diktators und seiner Anhänger ist demgegenüber
nachrangig, ist sogar in Abhängigkeit von einem solchen
Legitimationsprozess zu erkennen und zu betreiben.
Ich freue mich, dass Du mich a) in der zu weiterer Wesensdurchdringung
der Werte Mitleid und Gnade provoziertest, b) kann nun noch
konkretisieren, dass Mitleid und Gnade zwei der wichtigsten
juristischen und humanistischen Prinzipien befördert:
1. das Gebot zur Beachtung der auch dem Verbrecher gegenüber unveräußerlichen
Menschenwürde,
2. die Verhältnismäßigkeit jeglichen staatlichen Handelns, was
allerdings auch bewusster für militärische Einsätze gelten muss.
Genau zum "1.Gebot" (Menschenwürde) könnte der
"Westen" archaischen und religiös-fanatischen
Rechtsauffassungen Vorbild sein, aber doch bitte nicht nur
"dogmatisch"/akademisch, sondern auch praktisch, wonach es
nicht ausschaut, wenn man sich das Fahndungsplakat mit gedruckt-durchgestrichenen
Köpfen sieht und den Dollarbeträgen darunter.
Genau auch zum Gebot der Verhältnismäßigkeit hoheitlichen Handelns
könnte wiederum der "Westen" viel rückständigen
Rechtsordnungen Vorbild sein, in denen Diebe die Hände abgehackt
werden, in denen auf Gotteslästerung die Todesstrafe ausgesprochen
wird usw.
Hinsichtlich der "Verhältnismäßigkeit" gibt es zwar auch
Streit zwischen Europäischer Union und US-Recht, denn jenseits des
Atlantiks wird noch immer in vielen Bundesstaaten (und auch von Bush)
die Todesstrafe für "verhältnismäßig" gehalten.
Aber dieser Streit um die Todesstrafe, so wichtig er auch mir persönlich
zugunsten des Lebens zu entscheiden ist, darf letztlich nicht dazu führen,
dass man die viele Übereinstimmung ignoriert, die es ansonsten
diesseits und jenseits des Atlantiks zur "Verhältnismäßigkeit"
gibt, denn auch in Todesstrafen-Bundesstaaten ist nicht die
"Qual" der eigentliche Zweck der Todesstrafe, sondern der
Tod, der mitsamt priesterlichem Beistand und technologisch
vermeintlich milde herbeigeführt werden soll.
Dass es Sadisten unter den Todesstrafen-Befürwortern gibt, kann nicht
davon ablenken, dass auch Humanisten die Todesstrafe für eine
"verhältnismäßige Reaktion auf Schwerstverbrechen"
halten, was ich zwar entschieden und oft ausführlich begründet
ablehne, aber ihnen letztlich nichts anderes unterstellen darf und
kann.
Diese Beachtung und Vorführung dieser beiden Werte (Menschenwürde
und Verhältnismäßigkeit) könnte den Brückenschlag zwischen den
Kulturen sogar auch in Situationen der Besatzung schaffen.
Alles andere wird scheitern - und scheitert schon jeden Tag.
Tobias, ich denke, dass wir uns darin einig sind, aber
"entwickeln" sollten wir solche Dinge gleichwohl.
Schönes Wochenende wünsche ich Dir!
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Sven
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