Die Tagung fand am 21. Januar 1999 in Hamburg statt.
BEGRÜNDUNG
Erstmals trafen sich die Spitzenvertreter
von Juden und Muslimen in Deutschland und diskutierten die
Minderheitendiskriminierung und Chancen gemeinsamer
Integrationsbemühungen.
Der verstorbene Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Ignatz Bubis, war sich
dieser sensationellen Annäherung bewußt: "Ich weiß, daß ich dafür in
meinen eigenen Reihen viel Ärger bekommen werde."
Dr.Nadeem Elyas, Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in Deutschland
unterstrich die Entschlossenheit mit den Worten: "Wir werden Kritik aus den
eigenen Reihen ernten. Dies haben wir in Kauf genommen, da wir uns als Muslime
in Deutshland für Transparenz, Öffnung und für Zusammenarbeit einsetzen
wollen."
Für ihren Mut, dennoch vorhandene Vorurteile und Denkblockaden zu durchbrechen,
erhalten die Genannten den www.friedenspreis.de.
Innenpolitische Brisanz
Die Ausgangsituation heute ist entgegen verbreiteter Ansichten
weniger von "Ausländerfeindlichkeit" geprägt, denn nicht Amerikaner
oder Niederländer sind die Adressaten der Ressentiments, als vielmehr von
"Fremdenfeindlichkeit", die sich unabhängig von der
Staatsbürgerschaft an spezifizierbaren Verschiedenartigkeiten manifestiert.
Diese Fremdenfeindlichkeit äußert sich in anwachsendem Rechtsextremismus, in
dessen Ideologie der Antisemitismus einen unverändert festen Platz innehat.
So sehr sich die politische Mitte unseres Landes vom Antisemitismus emanzipiert
glaubt und der Antisemitismus in Aufarbeitung des Holocaust seine
"Salonfähigkeit" verlor, sind dennoch die Schwierigkeiten
vorherrschend, sich das Judentum als religiöse, kulturelle Identität vorzustellen und definiert die jüdische Minderheit vielfach nach
Abstammungskriterien, also genetisch und damit in ideologischer Nachbarschaft
zum Rassismus, der menschenverachtenden Interpretationsvariante gemutmaßter
Unterschiedlichkeit.
Historisch relativ neu hingegen sind Überfremdungsängste gegenüber der
zahlenmäßig größeren, muslimischen Minderheit. Es hat sich das Feindbild eines ideologischen Islam herausgebildet, der eine Bedrohung
westlicher Kultur und Gesellschaftsordnung darstelle.
Die Konkurrenzängste nähren sich aus den Quellen a) wirtschaftliche und
einhergehend soziale Zukunftsängste, b) das stärkere Hervortreten des
internationalen Arm-Reich-Konfliktes seit mit dem Ende der
sozialistischen Staaten- und Militärallianz die jahrzehntelange
Hauptkonfliktlinie des Ost-West-Gegensatzes entfallen ist.
Ihrem politisch bewussten Selbstverständnis nach sind Juden und
Muslime deutscher Staatsbürgerschaft weder "Ausländer" noch "Fremde", sondern entsprechend
Artikel 3 Grundgesetz undiskriminierbar "Deutsche".
In der bundesrepublikanischen Realität indes wird der Verfassungsanspruch
verkannt und die Mehrheitsbevölkerung nimmt gegenüber den religiösen und ethnischen Minderheiten eine Haltung ein, deren
Konstante die Fremdheit ist.
Fremdheit definiert sich als Integrationsdefizit und ist die typische Ausgangssituation jeder ersten Phase der
Begegnung.
Fremdheit überwindet sich im gegenseitigen Kennenlernen und in der Bewältigung
gemeinsamer Aufgaben. Und tatsächlich ist signifikant, daß die fremdenfeindlichen Exzesse vor allem
Städten vorbehalten sind, in denen die Minderheiten besonders schwach und neu vertreten sind,
während es etwa in Rüsselsheim mit jahrzehntelangem, fast 30%-Minderheitenanteil vergleichbare
Erscheinungen wie in Hoyerswerda (0,4%) oder Rostock (0,7%) nie gegeben hat.
"Wer gemeinsam an der Werkbank steht, ist sich nicht fremd."
Fremdheit überwindet sich also im Miteinander, während das Nebeneinander zu
Konkurrenz und Gefährlichkeit/Gewalttätigkeit führt.
Dieses geforderte Miteinander würde sich in einem Integrationsprozess realisieren, worunter die Mehrheitsgesellschaft allerdings
"Angleichung" versteht, in deren Folge die kulturelle Identität der
Minderheiten verloren ginge.
Ein solches Verlangen der Mehrheitsgesellschaft steht jedoch nicht im Einklang
mit den Garantien des Grundgesetzes, die den Staat und die Gesellschaft auf den
politischen, ethnischen, sprachlichen und religiösen Pluralismus
verpflichtet.
Die Neubegrifflichkeit "multikulturell" täuscht über das Alter
seines Inhalts hinweg, denn der verfassungsgebotene Pluralismus ist
gleichbedeutend "multikulturell" und die alternativlose Schlussfolgerung
aus der nationalistischen Katastrophe des untergegangenen
Deutschen Reiches.
Über die multikulturelle Garantie hinaus gebietet die Verfassung das
Selbstbestimmungsrecht für die einzelne Person, also die Freiheit der
individuellen Entscheidung und Perspektive.
Deshalb stehen alle gesellschaftlichen Gruppen in der grundgesetzlichen Pflicht
zur gegenseitigen Toleranz und zur Toleranz gegenüber dem Individuum.
Multikulturell darf deshalb auch nicht als statisches Nebeneinander von Kulturen
gelebt werden, sondern muss den Menschen die Freiheit zur Konvergenz und zur Novation, zu qualitativ neuer Kultur gewähren.
Die Tagung zog die Schlußfolgerung für das Verhältnis von Juden und Muslimen in
Deutschland, sich auch einander öffnen zu müssen, um solidarisch
gegen die Fremdenfeindlichkeit zu bestehen und die verfassungsmäßigen Rechte
durchzusetzen.
Außenpolitische Brisanz
Trotz des Selbstverständnis als Minderheiten gemeinsam Deutsche zu sein, wirken
gleichwohl in den Beziehungen zwischen deutschen Juden und Muslime die
Konflikte des Nahen Ostens. So war diese Veranstaltung auch im Hinblick auf
internationale Problemstellungen ein Beitrag zur Verständigung.
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